Mittwoch, 17. Mai 2017

Montessori-Pädagogik in der Pubertät: Vom Alptraum zur Verwirklichung des Traums

Vorsicht Teenager! Achtung Eltern!

Allgemein wird als Pubertät (von lat. Pubertas "Geschlechtsreife") die Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, etwa zwischen 10 und 18 Jahren bezeichnet, in der ein Mensch begleitend durch eingreifende körperliche und psychische Veränderungen die Geschlechtsreife erlangt.
Mit Pubertät wird oft etwas Instabiles und Turbulentes assoziiert. Eine allgemeine Unsicherheit gegenüber Pubertät, Vorurteile und sogar Angst vor diesem Phänomen herrschen in der Gesellschaft. Viele Eltern pubertierender Jugendlicher sind ratlos und verzweifelt. Manche fühlen sich gescheitert in der Erziehung ihrer Kinder und fragen sich, ob sie noch Einfluss auf ihre Nachkommen haben. Aus der Perspektive Jugendlicher ist die Situation ebenfalls sehr kompliziert. Sie fühlen sich oft missverstanden, verloren und in ihrer Experimentierlust und Kreativität eingeschränkt. Ist eine Erziehung im Jugendalter überhaupt noch möglich bzw. plausibel? Wenn ja, wie soll diese gestaltet werden? Welche Ziele soll sie haben?
Sowohl ein strenger Umgang mit Pubertierenden, wie z.B. Bestrafungen, Verbote, als auch Gleichgültigkeit bzw. die vollständige Aufgabe der Erziehung bringen im besten Fall sehr wenig. Hierbei kann sich der ohnehin labile psychische Zustand Jugendlicher in der Pubertät erschweren. Die Hirnforschung stellt fest, dass pubertierende Jugendliche nicht nur von ihren Hormonen beeinflusst werden. Ihre Gefühle und ihr Verhalten hängen sehr stark von sozialen Faktoren, wie Eltern, Schule, Freunde und Medien ab. Daher brauchen Jugendliche in dieser Phase  nicht nur Zuspruch, Orientierung und Verständnis, sondern auch eine veränderte, kompetente, auf Wissen und entsprechende Fertigkeiten basierte Erziehung. Derartige Erziehung soll beim Erlernen der Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und beim Erlangen des Selbstbewusstseins, also einer gesunden Identitätsbildung eines Menschen, begleiten und unterstützen.

„...eine entscheidende, empfindliche und Rücksicht heischende Periode“

Maria Montessori maß eine außerordentliche Bedeutung der Erziehung der Jugendlichen bei. Die neuesten Studien bestätigen die Thesen Montessoris, dass Pubertät eine besonders beeinflussbare, wechselhafte und labile Entwicklungsphase eines Menschen ist. Montessori sprach von der „zweiten Geburt“, der Geburt zu einem sozial und sexuell ausgereiften Wesen. Kurz und treffend beschrieb sie die sensible Phase zwischen 12 und 18 Jahren als „die Reifezeit, die durch einen Zustand der Erwartung gekennzeichnet ist, durch die Bevorzugung schöpferischer Arbeiten und durch das Bedürfnis das Selbstvertrauen zu stärken“. 
Eine Umbauphase der hohen Herausforderungen
Diese Phase der Krisen ist für Jugendliche verbunden mit einer sprunghaften und unregelmäßigen Entwicklung des Körpers und der Psyche. Diese körperlichen und geistigen Veränderungen sind dermaßen stark, dass sich die gesamte Persönlichkeit neu organisiert. Während dieser wichtigen Umbauphase vollzieht sich eine gravierende hormonelle Umstellung im Körper, dass großen Stress und somit Verunsicherung, Widersprüchlichkeit und Stimmungsschwankungen auslöst. Neben dem Bedürfnis nach Aktivität steigt gleichzeitig das Bedürfnis nach Einsamkeit. Die Wahrnehmung der Umwelt findet nicht auf rationaler, sondern vielmehr auf emotionaler Ebene statt, was Missverständnisse und emotionale Überreaktionen hervorruft. Während die Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistung bei Jugendlichen zurückgehen, tritt Verlangen nach Selbstfindung und -bestätigung  in den Vordergrund. Jugendliche versuchen sich mit eigener Lebensanschauung auseinander zu setzen, sich in der Gesellschaft zu „positionieren“, selbständig Entscheidungen zu treffen und ihr angereichertes Wissen aktiv anzuwenden. M.Montessori betont, dass in dieser äußerst sensiblen Entwicklungsperiode Jugendliche besonders stark auf die Rücksicht, auf die verständnisvolle Reflexion und vertrauensvolle Begleitung seitens Eltern sowie auch Schule angewiesen sind. Die Unterstützung und die Stärkung des Selbstgefühls Jugendlicher ist außerdem für die Prävention des in der Pubertät besonders erhöhten Suchtpotenzials (Alkohol, Drogen, Essen) von enormer Bedeutung.

Die Stärken und Interessen Jugendlicher als Ausgangspunkt der Erziehung

Die Notwendigkeit der Erziehung in der Pubertät besteht außer Zweifel. Eine weitere Herausforderung stellt die Formulierung der Erziehungsziele dar. Im Laufe des herkömmlichen Erziehungsprozesses wird seitens „Erzieher“ oft versucht, auf  Jugendliche absichtsvoll einzuwirken, so dass diese bestimmten Vorstellungen Erwachsener entsprechen. Oft setzen Erwachsene ihre eigenen Ziele bezüglich ihrer Kinder durch.
Im Gegensatz hierzu lädt M. Montessori dazu ein, Kinder und Jugendliche in erster Linie gezielt zu beobachten, um sie kennen zu lernen und herauszufinden, was sie zum Wachstum und Lernen brauchen. M. Montessori war der Meinung, dass jedes Kind von Geburt einen eigenen inneren Bauplan hat, der seinen körperlichen und geistigen Wachstum bestimmt. Die Verwirklichung dieses Bauplans ist das oberste Erziehungsziel nach Montessori. Von diesem differenzierten Menschenbild ausgehend können Eltern ihrem Kind eine optimale Umgebung für dessen Entwicklung schaffen, deren wichtigen Teil sie selbst darstellen sollten. Die Begleitung Jugendlicher sollte nicht mit einem Zwang bzw. festen Erwartungen verbunden sein, sondern vielmehr eine gemeinsame Suche nach den Möglichkeiten, Wegen und Zielen darstellen. Die Aufgabe der Eltern besteht nach M.Montessori darin, „den einzelnen Jugendlichen in den Blick zu bekommen und ihn abzuholen, wo er/sie gerade steht, zu begleiten und Impulse für Aktivitäten anzubieten, ohne die eigenen Ziele als obersten Maßstab zu setzen“. Folgende Schlüsselkompetenzen sind aus Sicht Montessoris unabdingbar für die Selbstfindung eines Jugendlichen: Realistische Selbsteinschätzung, Akzeptanz seiner selbst mit eigenen Stärken und Schwächen, positives Selbstwertgefühl und notwendige  Kompetenzen (z. B. fachlich, sprachliche usw.). Hierbei bewertet sie bspw. den erfolgreichen Schulabschluss gar nicht als vordergründig.

Erdkinderplan: „Neue“ Jugenderziehung nach Maria Montessori

Infolge ihrer Beobachtungen und Überlegungen verfasste Maria Montessori ein pädagogisches Konzept der Jugenderziehung, das Erdkinderplan oder  Erfahrungsschule des sozialen Lebens genannt wird.
Montessori kritisierte das bestehende Schulsystem als unfähig Jugendliche auf das reale Leben vorzubereiten, ihnen unterschiedliche Lern- und Arbeitsformen beizubringen, sowie Selbstständigkeit und Unabhängigkeit anzueignen. Trotz zahlreicher Reformen des Schulsystems sind die meisten Kritikpunkte Montessoris nach wie vor aktuell. Der Frontalunterricht statt interaktiven Lernens findet immer noch am häufigsten statt, es fehlt oft der praktische Bezug zum vermittelten Wissen sowie Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und Fähigkeiten einzelner Schüler. Anstellte des fächerübergreifenden Lernens wechseln sich die Unterrichtsstunden ohne logischen Zusammenhang ab. Leistungsnachweise werden bis jetzt durch Noten ausgedruckt und vermitteln keine Informationen über den individuellen Entwicklungsprozess einzelner Jugendlicher. Nach der Ansicht Montessoris muss die Erfahrungsschule des sozialen Lebens den Bedürfnissen Jugendlicher gerecht werden, ihnen einen lebendigen Alltag anbieten, in dem neben intellektueller Förderung dem eigenständigen Denken, Handeln und Fühlen viel Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Kurzum sollen Bildung und Erziehung nicht getrennt voneinander, sondern gemeinsam einerseits Sachkompetenz, andererseits sittliche und soziale Kompetenz fördern.
„Kinder und Jugendliche brauchen zum Wachsen die Freiheit“
Montessori führt den Begriff „Erdkinderschule“ ein, einer Schule für „alle Kinder dieser Erde“ mit unterschiedlichen geistigen und körperlichen Fähigkeiten. Laut Idealvorstellung M. Montessoris soll für Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren herkömmliche Schule abgeschafft werden, da die Reifezeit Jugendlicher sehr schwierig sowohl körperlich als auch seelisch verläuft. Montessori schlägt stattdessen vor, dass Jugendliche auf dem Lande, fern von ihrer gewohnten Umgebung leben. Sie stellt sich ein Dorf auf dem Lande vor mit:
  • Bauernhof als Stätte der Produktion,
  • Handelsgeschäft als Stätte des Vertriebs, des Warenaustausches und der Kommunikation,
  • Gästehaus als Dienstleistungs- und Kontakteinrichtung.
Diese Einrichtungen sollen gemeinsam von Jugendlichen und begleitenden Erwachsenen mit dem Ziel der wirtschaftlichen Unabhängigkeit geführt werden. Die Möglichkeit für die Jugendlichen, selbst Geld zu verdienen, soll nach Montessoris Vorstellung ihre soziale Unabhängigkeit stärken. Das Landschulleben bietet wichtige Erfahrungen gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Möglichkeiten eigenen Ausdruck zu finden, was unter anderem ein Interesse für Naturwissenschaften und Geschichte anregen kann.
Heute könnte so eine Vorstellung einem überholt erscheinen. Und dennoch praktizieren viele reformpädagogische Schulen solche „Studien- und Arbeitszentren“, die zwar nicht die reine Form „des Lebens auf dem Lande“ nach Montessori darstellen, bieten den Schülern jedoch viele wichtige Erfahrungen „des realen Lebens“, die in einer regulären Schule nicht Teil des Unterrichts sind.
Montessori lehnte zwar einen festgelegten Arbeitsplan für ihre "Erfahrungsschule" ab, hob jedoch folgende Bereiche hervor, denen im Jugendalter ihrer Meinung nach besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll.
Die Moral: Hier geht es nicht um „vorbestimmte“ sittliche Normen, es geht um zwischenmenschliche Beziehungen und Achtung voreinander, die nicht zwanghaft angeordnet werden, sondern bewusst erarbeitet, erlernt und natürlich gelebt werden. Damit dieser Entwicklungsprozess vonstattengeht, sollen Jugendliche eine würdige Behandlung und eine großzügige Anerkennung ihrer Erfolge seitens Erwachsener erfahren. Sie brauchen zwar mehr Freiheit für ihre Initiativen, sollen jedoch bei deren Umsetzung begleitet werden.
Der Leib: Montessori betont die Wichtigkeit körperlicher Aktivität, Sports, körperlicher Arbeiten, gesunder Ernährung, Suchtprävention. Durch das bewusste, achtsame Umgehen mit eigenem Körper wird das Selbstwertgefühl gestärkt. Trotz des veralteten Begriffes Leib sind alle genannten Aspekte brennend aktuell. Zahlreiche Errungenschaften der Technik und der Lebensmittelindustrie unserer Zeit führen unter anderem zu einem starken Bewegungsmangel durch Medienkonsum und falschem Essverhalten (Fastfood, Essstörungen).
Programme und Methoden (Erziehungs- und Bildungsinhalte): Hier wird die Notwendigkeit des persönlichen Ausdrucks hervorgehoben. Unterstützend dabei sind die Musik, die Rhetorik, das Theaterspielen, die Sprache sowie die bildenden Künste. Weiterhin hält Montessori die Förderung der drei schöpferischen Elemente des psychischen Seins für sehr wichtig. Sie benennt die Moral, die für Ausgeglichenheit sorgt, die Mathematik, die wesentlich zum Begreifen der Welt beiträgt, und die Sprachen, die den persönlichen Ausdruck ermöglichen. Schließlich geht es um die kosmische Erziehung Jugendlicher.

Familienleben jugend- und elterngerecht gestalten

Zweifellos erscheinen manche Aspekte der Montessori-Jugenderziehung idealistisch, dogmatisch oder nicht mehr aktuell. Sie hat sich außerdem wenig zur Familienerziehung geäußert. Und dennoch sind ihre Überlegungen und Vorschläge voller Anregungen und Ideen sowohl für Pädagogen als auch für Eltern. Oft ist es eine flexible Interpretation. Aber erfordert die Erziehung Jugendlicher etwa nicht viel Flexibilität und Offenheit? Die Kinder- und Jugenderziehung sollte nach Montessori ein interaktiver, dialogischer Prozess sein. Sie ist die Chance für uns, Erwachsene, sich selbst besser kennen zu lernen, mit unseren Schwächen und Stärken, positiven und negativen kindlichen Erlebnissen und Erfahrungen, die letztendlich unsere Verhaltens- und Denkmuster bestimmen. Spätestens währen der Pubertät eigener Kinder ist es Zeit, unsere dicken synaptischen Verbindungen im Gehirn mal zu „verlassen“ und neue „anzulegen“. Es bedeutet für alle Beteiligten mehr Freiheit und Flexibilität, mehr Achtung voreinander und Anerkennung einander. Und je besser wir uns kennen, je höher wir uns wertschätzen können, desto einfacher gelingt uns ein entspannter Umgang mit unseren pubertierenden Teenagern. Wir können nicht nur ein Vorbild für unsere Kinder sein, sondern von ihrer turbulenten Kreativität und ihren frischen, unvoreingenommenen Ansichten auf unsere Gesellschaft und unsere gemeinsame Welt profitieren. Wäre es nicht schön, ein gemeinsames Ziel vor Augen zu haben sich wohler und vertrauter in der eigenen Familie und in unserer Umgebung zu fühlen?
(In Anlehnung an das Buch „Montessori in der Pubertät“ von Claudia Schäfer)

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