Das Thema des Friedens ist in zahlreichen Schriften und Reden Maria Montessoris durchgehend präsent und untermauert ihre ganze Pädagogik. Darin versucht sie ihr pädagogisches Konzept im Hinblick auf die Friedenserziehung fundiert zu begründen.
Ist Frieden das Aufhören des Krieges?
Aus Sicht von M. Montessori ist eine richtige Definition für den Frieden ein wichtiger Anfang in der Erforschung dieses Phänomens. Das Verständnis des Friedens als Beendigung des Krieges verfehlt vollkommen sein Wesen. Das Ende eines Krieges bedeutet den Sieg des Starken über den Schwachen, d.h. eine erzwungene Anpassung des Besiegten an die Unterdrückung durch den Sieger. Obgleich die Unterdrückungsformen mit der Zeit ausgeklügelt „zivilisiert“ werden. Besiegte und Sieger sind „weit entfernt vom göttlichen Einfluss der Liebe und stören die Harmonie des Universums“. Der Nachkriegszustand, irrtümlicherweise Frieden genannt, schafft die besten Voraussetzungen für den nächsten Krieg. Aus Angst vor diesem „Frieden“, vor dem Triumph des Siegers, lassen sich Menschen viel einfacher von trügerischen Behauptungen hinreißen und zu einem weiteren Kampf erheben.Montessori definiert den wahren Frieden als ein positives Konzept, das „den Sieg der Gerechtigkeit und der Liebe unter den Menschen und eine bessere Welt bedeutet, in der Harmonie herrscht“. Während es im Krieg um die Überlegenheit des Starken über den Schwachen, um Besitzstreitigkeiten geht, steht Frieden, aus Sicht von Montessori, für die Förderung der Kreativität, Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein des Menschen und Zusammenwirken zwischen den Völkern.
Die Wissenschaft vom Frieden
Das Phänomen des Krieges stellt einen Rätsel dar: Wie kann man gleichzeitig den Krieg als einen der schlimmsten Schicksalsschläge betrachten, und so schnell bereit sein in den Krieg zu ziehen. Eigentlich wäre die Klärung dieser Frage sehr anstrebenswert. Jedoch, im Gegensatz zur Wissenschaft des Krieges: der Rüstungen und der Strategie, steckt die Friedensforschung in den Kinderschuhen. Montessori vermutete, dass sich diese Tatsache hauptsächlich durch das verzerrte Verständnis des Friedens und das fehlende Bewusstsein der ständig bleibenden Kriegsgefahr zu erklären ist (In moderner Zeit werden die Stimmen immer lauter, dass unter anderem sowohl politische als auch finanzielle Interessen die Friedensforschung erheblich behindern). Da man von den falschen Kriegsursachen ausgeht, sind daraus entstehende Friedensstrategien unwirksam, wenn nicht provozierend. „Und jedes Mal werden die Menschen hoffen, dass dies der letzte Krieg sei, der nötig ist, um den endgültigen Frieden zu finden“ (Wenn man an die Geschehnisse der letzten Jahre denkt (Feindbilder, Kriegsrhetorik in der Presse, Aufrüstung usw.), staunt man, wie aktuell, treffend und schon fast hellseherisch die Überlegungen Montessoris immer noch sind.).Die Ursachen des Krieges zu erforschen, scheint nach wie vor existenziell wichtig für die Menschheit. M. Montessori vermutete, dass die tiefsten davon in der Psyche, „in den inneren Energien“, des Menschen liegen. So stellt erst eine ganzheitliche Betrachtung des Zusammenwirkens der Menschen und ihrer Umgebung eine fundierte Grundlage der Friedensforschung dar. Die in der Regel als Kriegs- bzw. Revolutionsgründe angegebenen sozialen oder nationalen Ursachen sind aus Sicht Montessoris nur eine Spitze des Eisbergs
Abgrund ruft nach Abgrund
Gerade am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts beschleunigte sich der technische Fortschritt, es wurden bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen gemacht, von denen sich M. Montessori einerseits begeistern ließ. Denn diese waren eine Bestätigung der geistigen Fähigkeiten des Menschen, seines Wissendrangs und Strebens nach einem besseren Leben. Im Laufe des unaufhaltbaren wissenschaftlichen und technischen Progresses wurden die Menschen auf der ganzen Welt für ihr Überleben immer mehr voneinander abhängig. M. Montessori betrachtete alle Menschen als „einzige Nation“ mit gemeinsamen Zielen und Interessen.Jedoch betonte sie stets, dass der Mensch neben solch leidenschaftlicher Eroberung der „Natur“ auf das zurückgebliebene Innen schauen soll. Sie hob die steigende Verantwortung des Menschen für seine neu geschaffene Welt („Supernatur“) hervor. Der neue Mensch sollte heranwachsen, „der selbst das Niveau seiner eigenen Schöpfung erreicht“. Denn sollte der Mensch seine Errungenschaften zur Zerstörung seiner selbst einsetzten, wird es ihm sehr schnell gelingen.
Eine befreiende Erziehung: Frieden statt Kampf
M. Montessori nannte zwei Dimensionen der Sicherung des beständigen Friedens. Die eine ist eine gewaltlose Konfliktlösung, die sie als Werk der Politik bezeichnete. Und die andere stellt den Aufbau eines stabilen und langfristigen Friedens dar, das Werk der Erziehung. Ihre Intention war Orientierung aller Menschen auf gemeinsame Ziele. Somit hob M. Montessori die besondere Erziehung „der Menschheit aller Nationen“ hervor, die zur Erkenntnis führt, dass alles auf dem Planeten in enger Wechselwirkung steht, und einleuchtend macht, wie das Leben durch den Beitrag eines jeden Lebewesens erhalten wird.Vom Neuen Kind zum Neuen Menschen
Für die grundlegende „Erneuerung“ der bestehenden Gesellschaft, für einen gesunden psychischen Wiederaufbau des Menschen reicht es aus Sicht von M. Montessori nicht aus, ideologische Ausrichtung der Erziehung „friedensgerecht“ zu gestalten, indem bspw. Waffenspielzeug, oder Lernen der glorreichen Kriegsgeschichte in der Schule abgeschafft werden. Es muss vielmehr eine innerliche psychische Dimension der menschlichen Persönlichkeit untersucht werden. „Man muss sich an das Kind wenden als unabhängiges, für sich selbst zu betrachtendes Wesen.“ Das Kind, dessen natürliche Eigenschaften noch nicht durch verheerende Einflüsse der Gesellschaft vernichtet oder entstellt worden sind.Die Montessori-Pädagogik unterschied sich von den herkömmlichen Erziehungsansätzen, die leider auch bis heute ihren Gebrauch finden, durch die unvoreingenommene Beobachtung von Kindern. Sie vertraute in die Weisheit der Natur, die Kindern alle Werkzeuge für ihre optimale Entwicklung mitgab. Sie offenbarte „ein neues Kind“, den neugierigen Entdecker seiner Umgebung, das aufmerksam und konzentriert arbeiten kann, innerlich diszipliniert, selbständig und friedlich ist. Daher definiert sie die Erziehung als individuelle Beobachtung und Begleitung jedes einzelnen Kindes in seiner schöpferischen Entfaltung. Dies steht im Gegensatz zu einem „echten und furchtbaren“ Konflikt zwischen Kind und Erwachsenem, „einem Krieg ohne Waffenstillstand“, der sich in einer Anpassung des Kindes an die Vorstellungen des Erwachsenen äußert. Der Erwachsene fühlt sich irrtümlicherweise „dazu berufen, dem Kind die von der Gesellschaft gewünschte psychische Form zu verleihen.“ Daraus resultiert ein schwacher Mensch, der in sich selbst misstraut, sich vor öffentlicher Meinung ängstigt, und dem selbständige Handlugen und Übernahme der Verantwortung für diese schwer fallen. Somit befindet sich das heranwachsende Kind in einem unendlichen Kampf gegen seine Umgebung und ist daher mit entsprechenden „Kriegswerkzeugen“ für das weitere Leben ausgerüstet. Aus diesem Grund, meint M. Montessori, wird man oft mit einer gefährlichen blinden Gehorsamkeit bei Menschen konfrontiert, die eine leichte Unterwerfung den stärkeren Anführern und eine schnell entfachende Aggressivität und Kriegsbereitschaft zur Folge hat.
„Der natürliche Weg, auf dem sich das Leben offenbart“
Eine ungestörte, harmonische Entwicklung setzt dagegen einen friedlichen Kontext voraus: eine ruhige Atmosphäre, in der sich Kinder innerlich diszipliniert, ernsthaft und freudig betätigen können, sowie eine „vorbereitete“ Umgebung für das Kind, die im physischen und psychischen Sinne auf seine Bedürfnisse angepasst ist. Stille, inneres Gleichgewicht und friedvolles Miteinander sind nach Montessori die wichtigsten Meilensteine der kindlichen Entfaltung.Nach Meinung von M. Montessori lernen Kinder Frieden kennen, wenn es ihnen ermöglicht wird, sich mithilfe der Übungen des praktischen Lebens als untrennbaren Teil der Umgebung zu erleben, diese zu beherrschen und Verantwortung für sie zu übernehmen. Hierbei können Kinder auch ihre sozialen Kompetenzen ausbauen, indem sie anderen helfen, füreinander sorgen und somit Freude am Unterstützen und nicht am Konkurrieren erfahren. Für ein Kind, das eigene Fähigkeiten ohne Hindernisse entfalten kann, verlieren die Konkurrenz und der Wunsch, besser als die anderen zu sein, an ihrer Bedeutung. Denn solches Kind hat die Freude am Schaffen, Helfen und Weiterentwicklung.
Alle Elemente der Montessori-Pädagogik sind auf eine Stabilisierung und Harmonisierung des kindlichen Inneren mit seiner Umgebung ausgerichtet, und versuchen, möglichst wachsam und empfindsam den Weg des Kindes zum Erwachsenen zu ebnen. „Der Frieden muss wissenschaftlich durch die Erziehung vorbereitet werden.“
Maria Montessori hat den Frieden nicht als wünschenswert, sondern als unabdingbar für das Weiterbestehen der menschlichen Zivilisation angesehen. Ihre revolutionären Neuerungen und herausgearbeiteten Grundsätze der kindlichen Erziehung zielten darauf ab, aus dem Kinde einen „neuen“ Menschen heranwachsen zu lassen. Einen Menschen, der innerlich ausgeglichen, selbstbewusst und verantwortungsbewusst ist, und in Harmonie mit seiner Umwelt lebt. Einen Menschen, für den „der Krieg absolut kein Problem wäre, der Krieg wäre einfach eine zur Zivilisation im Gegensatz stehende Barbarei, eine unergründliche Unvernunft für die Seele“.